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Merz & "Stadtbild": Statistik lässt Schlüsse zu - aber keine einfachen


Merz & "Stadtbild": Statistik lässt Schlüsse zu - aber keine einfachen

Berlin. Übergriffe auf Plätzen, Vergewaltigungen zu Hause, Drohungen im Internet: Frauen sind stark betroffen. Manchmal überwiegt Angst die reale Gefahr.

Der Bundeskanzler sieht keinen Anlass, sich zu entschuldigen. Seine vage Aussage aus der vergangenen Woche zu Migration als Problem im "Stadtbild" hatte ein großes, zum Teil sehr empörtes Echo ausgelöst. In dieser Woche legte Merz dann nach: "Alle bestätigen, dass das ein Problem ist, spätestens mit Einbruch der Dunkelheit."

Was genau seiner Meinung nach das Problem ist, erklärt Merz nicht. Der Kanzler bleibt im Ungefähren, verweist auf junge Frauen. "Fragen Sie mal Ihre Töchter, was ich damit gemeint haben könnte", rät er, er vermute, dass die eine "klare und deutliche" Antwort geben würden. Die Botschaft, die zwischen den Zeilen transportiert wird: Frauen, vor allem junge Frauen, seien heute weniger sicher als in der Vergangenheit, und das hat nach Einschätzung des Bundeskanzlers mit Migration zu tun.

Ist das so? und wenn ja, warum? Was wir wirklich wissen über die Sicherheit von Frauen und Mädchen in Deutschland - ein Blick auf die Fakten.

Ende November 2023 fielen in der Großen Strafkammer des Hamburger Landgerichts Urteile gegen neun Angeklagte, alles Jugendstrafen. Die jungen Männer hatten ein 15 Jahre altes Mädchen in einem Gebüsch im Stadtpark vergewaltigt, während auf der Wiese davor andere Jugendliche feierten. Fast 70 Tage verhandelte das Gericht hinter verschlossenen Türen. Der Fall sorgte für großes Aufsehen - weil er besonders brutal war. Weil es aber auch darum ging, dass das Mädchen - stark alkoholisiert - sich offenbar kaum gewehrt hatte. Und das Gericht dennoch beweisen musste, dass die Männer es missbrauchten.

Sechs der Verurteilten sind in Hamburg geboren, die anderen stammen aus Libyen, Iran, Ägypten und Polen. Der Fall nährt eine Debatte darüber, dass auch Migranten und Ausländer das Leben von Frauen in Deutschland unsicherer machen. Gerade das "Stadtbild", so wie es der Bundeskanzler nun sagt.

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Seit der Silvesternacht in Köln 2015 gibt es eine hohe Wachsamkeit bei Übergriffen von jungen Geflüchteten auf Frauen. Damals wurden zahlreiche junge Frauen belästigt, teilweise angegriffen - Kriminalität von Ausländern, es ist ein Dauerthema. Auch für die Politik.

Nach 2016 gab es einen Anstieg von gemeinschaftlich begangenen Sexualstraftaten gegen Frauen, sogenannte "Gruppenvergewaltigungen". Seitdem ist die Fallzahl jedes Jahr relativ konstant, steigt allenfalls leicht, liegt aber bei immerhin rund 700 Fällen. Die Zahl der Verurteilten steigt leicht und liegt zwischen 400 und 500 pro Jahr. Doch das sind nur Fälle, die den Sicherheitsbehörden bekannt werden. Gerade bei Sexualdelikten bleibt vieles im Verborgenen, scheuen Opfer eine Anzeige aus Scham.

Was noch auffällt: Der Anteil der nicht-deutschen Tatverdächtigen ist überproportional hoch, liegt - je nach Statistik - zwischen 40 und 50 Prozent. Es braucht allerdings einige Erklärungen, damit die Zahlen nicht zu einfachen Schlüssen führen: Debatten wie "Me too" in der Filmbranche halten die Aufmerksamkeit auf das Thema hoch. Mehr Frauen zeigen möglicherweise dadurch Gewalt gegen sie an, sie fühlen sich ermutigt.

Die registrierten Sexualdelikte in Deutschland steigen ebenfalls. 2023 gab es laut Polizei 52.330 weibliche Opfer, ein Anstieg um gut sechs Prozent zum Vorjahr. Zwei Aspekte fallen auf: 51,0 Prozent der weiblichen Opfer sind jünger als 18. Mehr als ein Viertel der Tatverdächtigen ist unter 21 Jahren alt. Die Täter werden jünger - es ist auch das, was Ermittler in den Polizeidienststellen und Kriminalämtern unserer Redaktion bei Recherchen sagen. Manche ergänzen noch: Und die Gewalt wird härter.

Das ist interessant, denn blickt man insgesamt auf die Gewaltkriminalität in Deutschland, dann wurde das Land laut Polizeistatistiken viele Jahre vor allem eines: sicherer. In den Neunziger-Jahren stiegen die Fallzahlen an, 2007 waren sie auf einem Höhepunkt - und sanken. Der Trend kehrt sich allerdings um, etwa seit 2021. Die polizeilich registrierte Gewalt wächst wieder, bewegt sich schnell auf Rekordniveau. Männer sind meist Täter, Männer sind oft auch die Opfer. Aber Gewalt auf der Straße trifft auch Frauen.

Viele Kriminologen erklären den neuen Anstieg mit den Folgen der Pandemie. Junge Menschen waren isoliert, die Zukunftsangst wuchs, soziale Bindungen in der Schule wurden gekappt. Auch Gewalt gegen Frauen, so die These, nimmt zu, wenn Partner im Lockdown festhängen.

In den Polizeistatistiken fallen junge Tatverdächtige aus Syrien, Afghanistan oder Algerien überproportional auf - gerade bei der sogenannten "Straßenkriminalität", also Diebstähle sowie Körperverletzungen auf Wegen und Plätzen. Was Forscher wie Polizisten bekräftigen: Wir müssen uns nicht Sorgen um die Jugendlichen machen, sondern um eine kleine Gruppe an Jugendlichen, die mehr und mehr Hemmungen verliert. Das gilt für junge Deutsche wie für Ausländer.

Die BKA-Ermittlerin und stellvertretende Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Marina Hackenbroch, sagt: "Es gibt Gruppen junger Geflüchteter, die überdurchschnittlich oft mit Straftaten auffallen - darunter auch Gewaltdelikte." Die Polizistin sagt auch: "Oft sind andere Geflüchtete oder geflüchtete Frauen selbst die Betroffenen."

Zudem kommen zentrale Faktoren hinzu, die den Anteil an Flüchtlingen in den Kriminalstatistiken beeinflussen: Die Gruppe ist gewachsen, es sind aber vor allem junge Männer, die kommen. Also Menschen, die ohnehin eher straffällig werden. Zudem werden Personen, die als Ausländer wahrgenommen werden, eher angezeigt und eher durch Polizei kontrolliert. Hinzukommt: Viele junge Asylsuchende leben in engen Unterkünften, dürfen nicht arbeiten, haben Gewalt auf der Flucht und in ihrer Heimat erlebt. Für Kriminalpsychologen sind das wesentliche Risiken dafür, dass Menschen Straftaten begehen. Gewalt ist oftmals erlernt - bei manchen Tätern von Kindheit an, etwa wenn die Eltern schlagen.

Kriminalbeamte wie Hackenbroch weisen zum Hintergrund von Schutzsuchenden darauf hin: "Einige kommen aus Gesellschaften, in denen patriarchale Strukturen tief verankert sind - das beeinflusst, wie sie Frauen sehen und wie sie sich verhalten." Männlichkeitsnormen seien ein "relevanter Einflussfaktor", sagt auch der Kriminologe Dirk Baier, besonders bei sexueller Gewalt. Er ist jedoch vorsichtig, von "kulturellen Faktoren" zu sprechen, da männliche Macht und tradierte Normen in allen Gruppen zu finden seien.

Auch BKA-Ermittlerin Hackenbroch sagt, dass Gewalt gegen Frauen nicht "importiert" sei. "Sie ist auch immer noch ein Teil der deutschen Gesellschaft und existiert hier seit Jahrhunderten, in Familien, Beziehungen und Institutionen." Es gehe nicht um Herkunft, "sondern um Männlichkeit, Macht und den Umgang mit beidem", so Hackenbroch. Die Kriminalbeamtin wünscht sich "stabile Finanzierung von Frauenhäusern, verpflichtende Täterarbeit, Schulungen bei Polizei und Justiz und gesellschaftliche Aufklärung über Macht, Kontrolle und Gewalt".

Kriminologe Baier verweist auf andere Zahlen. 0,3 Prozent der Frauen in Deutschland hätten in den vergangenen zwölf Monaten sexuellen Missbrauch oder Vergewaltigung erlebt. Wenn Gewalt passiert, dann in drei Viertel der Fälle im sozialen Umfeld, also in der Familie, im Bekanntenkreis, in Sportvereinen. Aus Baiers Sicht rechtfertigen diese Zahlen nicht den Tenor, dass es im öffentlichen Raum für Frauen unsicherer geworden sei.

Und dennoch wächst ein Unwohlsein unter den Menschen in Deutschland. Ein Unsicherheitsgefühl - auch bei Frauen. Laut Deutschlandtrend von Infratest dimap fühlten sich im Juli 2024 vier von zehn Befragten im öffentlichen Raum nicht mehr sicher. Das mischt sich mit anderen Umfragen: Migration belegt immer einen der Spitzenplätze bei den Sorgen der Deutschen. In den vergangenen Jahren hat das Land mehrere Millionen Schutzsuchende aufgenommen.

Und doch ist Kriminalitätsfurcht auch paradox: So ist sie bei älteren Frauen besonders hoch - obwohl sie statistisch am wenigsten Gefahr laufen, Opfer von Übergriffen zu werden. Bei jungen Männern, im Durchschnitt am häufigsten betroffen von Gewalt, ist die Angst davor am geringsten. Das Gefühl der Unsicherheit ist häufig losgelöst von den eigenen Erfahrungen und Risiken - geprägt etwa durch Medienberichte. So konnten Wissenschaftler durch Langzeitanalysen herausfinden: Ausländer sind im Fernsehen und in Print-Medien überrepräsentiert, wenn es um Kriminalität geht. Und: Die Überrepräsentation von ausländischen Tatverdächtigen in deutschen Leitmedien ist stärker denn je zuvor.

Allerdings: Von Sexualstraftaten sind in sehr überwiegenden Fällen Frauen betroffen. Somit ist auch klar, dass die Angst, Opfer eines Missbrauchs zu werden, in dieser Gruppe besonders stark ist. Daran ist nichts irrational.

Die Politik muss ein Gefühl wachsender Unsicherheit ernst nehmen. Zugleich, so sagt Forscher Baier, gehe sie damit einen schmalen Grat. Dadurch, dass Kanzler Merz ausführlich darüber rede, dass es in den Städten immer unsicherer geworden wäre, erzeuge er "gerade das Gefühl bei den Menschen, dass es in den Städten immer unsicherer wird", so Baier.

Zohra G. starb auf der Straße, mitten am Tag. Mit 13 Messerstichen beendete ihr Ex-Mann das Leben der 31-Jährigen. Die beiden waren gemeinsam 2020 aus Afghanistan gekommen, in Deutschland hatte die Mutter von sechs Kindern sich von ihrem gewalttätigen Mann getrennt. Sie verblutete noch am Tatort in Berlin-Pankow.

Susann K. starb im Krankenhaus. Der Ex-Partner der 42-Jährigen hatte sie in ihrer Leipziger Wohnung mit einem Messer schwer verletzt. K. schaffte es nach draußen, doch sie überlebte den Angriff nicht. Auch den 10-jährigen gemeinsamen Sohn verletzte der tatverdächtige Nick W. schwer.

Zohra G. und Susann K. sind keine Einzelschicksale. Der Fachbegriff für Fälle wie diese heißt Femizid: Tötungen von Frauen, weil sie Frauen sind. Eine einheitliche Definition für den Begriff gibt es nicht, die Erfassung ist deshalb mit Unsicherheiten behaftet.

Das Bundeskriminalamt wertet alle vorsätzlichen Tötungsdelikte als Femizide, bei denen die Opfer weiblich sind. 2023, dem jüngsten Jahr, für das ein umfassendes Lagebild vorliegt, starb demnach fast jeden Tag eine Frau oder ein Mädchen als Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt. 938 einschlägige Delikte gegen Frauen zählten die Behörden in jenem Jahr, in 360 Fällen überlebten die Opfer nicht. Im Vergleich zum Vorjahr war die Zahl um einen Prozentpunkt gestiegen.

Femizide sind dabei häufig die letzte Eskalation in Beziehungen, die schon Jahre vorher von Gewalt geprägt sind. 180.715 Frauen und Mädchen wurden laut BKA-Lagebild Opfer von häuslicher Gewalt. Die Tatverdächtigen in fast 90 Prozent der Fälle waren männlich. Sowohl bei Femiziden als auch in Fällen von häuslicher Gewalt waren sowohl Opfer als auch Tatverdächtige überwiegend deutsch. Doch auch hier sind nicht-deutsche Tatverdächtige mit 31,8 Prozent überrepräsentiert im Verhältnis zum Anteil in der gesamten Bevölkerung im Land.

Der Tatort ist jedoch klar: die eigenen vier Wände, dort, wo sich ein Mensch eigentlich sicher fühlen soll. Der Deutsche Frauenrat kritisiert vor diesem Hintergrund diese Einlassungen des Bundeskanzlers: "Der gefährlichste Ort für eine Frau in Deutschland ist das eigene Zuhause, Herr Bundeskanzler", schrieb der Dachverband von rund 60 bundesweit aktiven Frauenorganisationen auf Instagram. Die Täter hätten eines gemeinsam: "Es sind Männer."

Gewalt droht Frauen nicht nur in den eigenen vier Wänden oder auf der Straße. Gerade im Geschäft mit der Prostitution warnen Polizei und Beratungsstellen vor einem wachsenden Menschenhandel. Frauen - oftmals aus Osteuropa - werden nach Deutschland gefahren, angelockt mit falschen Versprechen, aber auch mit Drohungen, Erpressungen, Gewalt. Die Täter nutzen die Not - auch die Geldnot - ihrer weiblichen Opfer aus. In Deutschland werden jeden Tag drei Fälle von Menschenhandel festgestellt. Zu diesem Ergebnis kommt ein neuer Bericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIM). Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen.

Laut Bundeskriminalamt ist etwa ein Drittel der Opfer unter 21 Jahren alt. Zwei Drittel der Opfer und Tatverdächtigen sind nicht-deutsch. Ein Hinweis darauf: Der Markt für sexuelle Dienstleistungen in Deutschland ist groß - doch die Frauen sowie die Menschenhändler stammen nicht von hier.

Noch eine besondere Form des Menschenhandels trifft Frauen speziell: Leihmutterschaft. Der Markt für Kinder ist lukrativ, die Nachfrage groß. In Deutschland ist Leihmutterschaft gesetzlich verboten. Aber kinderlose Paare können Agenturen im Ausland beauftragen. Nur: Beratungsstellen berichten von Fällen, in denen Frauen und deren Körper ausgebeutet wurden.

Und dann gibt es da noch einen Bereich, in dem Gewalt gegen Frauen seit Jahren zunimmt: die digitale Gewalt. Unter diesem Begriff verstehen Ermittler und Kriminologen zum Beispiel Delikte wie Cyberstalking und Cybergrooming, aber zum Beispiel die Erpressung mit intimen Bildern.

Auch hier ist die statistische Erfassung der Fälle nicht einfach, weil nicht immer festgehalten wird, ob digitale Medien eine Rolle gespielt haben bei den Taten. Trotzdem sieht das BKA hier einen deutlichen Anstieg der Fallzahlen: Wurden 2019 noch 7.466 weibliche Opfer in der Rubrik "Digitale Gewalt" gezählt, waren es 2023 schon 17.193.

Insgesamt machen Frauen und Mädchen in diesem Bereich nach BKA-Angaben 62,3 Prozent der Opfer aus. Bei Fällen von Nötigung, Bedrohung und Stalking sowie bei Delikten, bei denen gegen deren Willen Fotos vom Intimbereich der Opfer gemacht werden, lag der Anteil deutscher Tatverdächtiger bei rund 75 Prozent. Bei Fällen von digitaler Gewalt, die sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen darstellen, waren es 90 Prozent.

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